Zeitgemäße Wildküche
In der Wildküche hat sich gegenüber früher viel geändert. Der Hautgout treibt nur noch in alten Kochbüchern sein Unwesen. Dieses Stadium der Überreife - beschönigend Hochgeschmack genannt - war das Ergebnis wochenlangen Abhängens. Das Fleisch schmeckte dann, unbarmherzig gesagt, leicht verdorben, wie etwa ein Fasan, von dem Anthelme Brillat-Savarin, der Gourmetpapst des frühen 19. Jahrhunderts, forderte, ihn so lange an den Schwanzfedern aufzuhängen, bis der Vogel von selber herunter fällt.
Das lange Abhängen diente auch dem Nachreifen, um ältere, zähfleischige Tiere mürber zu machen. Allerdings musste der dadurch entstandene Hautgout beseitigt, zumindest gemildert werden, was prompt zu einer weiteren Todsünde wider das feine Wildaroma führte: das Überwürzen. Mit vollen Händen haben die Altvorderen in die Pfefferbüchse und Kräuterdose gegriffen. In einem hundert Jahre alten Rezept bearbeitet Anna Koller, ehedem Köchin im “Löwenbräu“ in Bad Reichenhall, einen Rehrücken mit Essig und einer Vielzahl an Kräutern sowie Gewürzen.
Frau Koller, die übrigens ein Kochbuch mit dem putzigen Untertitel „Eine Anleitung, die Speisen eben so schmackhaft und zierlich, als schnell und sparsam zu bereiten“ herausgab, legte ihren Rehrücken so an: Den Rücken einsalzen. Dann Essig und Wasser zu gleichen Teilen mit Thymian, Bertram, Lorbeerblättern, Limonieschalen, Nelken, Pfefferkörnern, Wacholderbeeren, gelben Rüben, Petersilienwurzeln sieden, auskühlen lassen und über das Fleisch schütten. Zudecken. Diese Brühe wird zwei bis drei Tage hindurch täglich einmal abgeseiht, erneut aufgesotten und kalt auf das Fleisch geschüttet. Am Ende dieser Prozedur das Fleisch waschen, abtrocknen, spicken und in eine Rein legen, in welche ein bisschen Suppe, eben soviel Bertramessig (Bertram ist ein altmodisches Wort für Estragon), ein wenig Zwiebel, Lorbeerblätter, Thymian, Petersilie, Limonieschalen, Nelken und Pfefferkörner getan worden sind. Das Fleisch braten, kurz vor dem Anrichten mit saurem Rahm begießen und fertig garen.
Würzorgien à la Anna Koller töten jedes Wild ein zweites Mal. Salz und Pfeffer mit Fingerspitzengefühl aus der Mühle gerieben, eventuell ergänzt durch ein paar Wacholderbeeren und etwas Thymian oder Rosmarin, sind als flankierende Maßnahme völlig ausreichend.
Eine weitere Sünde ist das Spicken. Dadurch wird die Haut verletzt und das Fleisch verliert beim Braten unnötig Flüssigkeit. Rücken und Keule werden durch die Spicktortur eher trocken als dass sie ihren kostbaren Saft behalten. Zudem schmeckt das gespickte Fleisch nach der Zubereitung dominant nach Speck. Die neue Wildküche zieht das sogenannte Bardieren vor, das Umhüllen des zu bratenden Stückes mit einem dünnen Mantel aus ungeräuchertem Speck. Ansonsten reicht ohnedies das sorgfältige Begießen mit dem Bratensaft.
Veraltet ist auch das Beizen, also das Einlegen von Wildbret in Rotwein oder Essig. Hiermit wollte der altertümliche Koch entweder das Fleisch über Wochen hinweg konservieren - Kühlräume gab es keine - oder den durchs Abhängen deutlich gewordenen Hautgout halbwegs neutralisieren. Obendrein sollten die Säuren von Wein und Essig das Fleisch weicher machen. Das Ergebnis ist aber, dass das Wild teilweise oder gänzlich seinen typischen Eigengeschmack verliert.
Heftigen Zank löst die Frage aus, wie stark Wild gebraten werden soll. Stramm durch, sagen die Ernährungswissenschaftler, was praktisch bedeutet, dass die Kerntemperatur mindestens zehn Minuten lang 80 Grad betragen muss. Wild könne nämlich bakteriell befallen sein. Dagegen mögen radikale Feinschmecker ihren Rehrücken nur rosa und sonst gar nicht. Geschmack hat Vorrang, sagen sie, auf gesundes Fleisch vertrauend.
Quelle: August F. Winkler
Klaus Berke
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